Cover

Olga Schiefer/ Renate Schiller           Da lebt die Farbe auf unter den Fingern …  

 

                                                           Über Kunst und Kunstpädagogik

 

 

 

                                                           1. Auflage 2015

 

                                                           Verlag Freies Geistesleben

 

 

 

                                                           360 Seiten/ € 39,90

 

 Rezension

 

Der erste Eindruck des nahezu quadratischen Buchformats ist anregend und macht unmittelbar neugierig: kräftiges, differenziertes Rot und ausgleichendes Blau-Violett, dazu der Titel und Untertitel – Wahrnehmung und Denken werden gleichermaßen angesprochen und fordern auf!

 

Ein erstes Blättern zeigt klare Gliederung des Textes, Übersichtlichkeit (die Anmerkungen sind abgesetzt auf der Seite, sodass kein unnötiges Nachschlagen nötig ist) und dazu hervorragendes Bildmaterial, das nicht nur Kunstgeschichte, sondern auch aktuelle Malerei zeigt.

 

 

 

Im Vorwort wird auf die Besonderheit des von Rudolf Steiner gegebenen Lehrplans für das Malen und Zeichnen an Waldorfschulen hingewiesen. Dieser gliedert sich in drei Bereiche - erste bis fünfte Klasse, sechste bis zehnte Klasse und von der elften zur zwölften Klasse. Die Autorinnen bezeichnen diese Gliederung als eine „rätselhafte Komposition“, die den Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen bildet, da nach Steiners Angaben von der sechsten bis zur zehnten Klasse – also fast die Hälfte der Schulzeit umfassend – soll das Schwergewicht auf exakte Wahrnehmung und Darstellung der sichtbaren Welt gelegt werden.

 

 

 

Das ganze Buch ist auf drei Ebenen angelegt:

 

 

 

Grundlagen zum Verständnis der Kunstentwicklung bis in die Gegenwart und deren Verbindung zu den

Entwicklungsgesetzen des Kindes und des Jugendlichen Anregungen für den Praktischen Unterricht aller Altersstufen. Damit verbunden ist die Frage nach der Aktualität von Steiners Ansatz im Hinblick auf die heutige Schülerschaft und die zeitgenössische Kunst.

 

 

                       

 

So ist knapp und klar das Programm umrissen, das in den drei großen Kapiteln Von der Unterstufe zur Mittelstufe, Von der Mittelstufe zur Oberstufe und  Oberstufe behandelt wird; der sich anschließende Anhang will Anregungen geben für den Praktischen Unterricht.

 

 

 

Schon in der Einstimmung wird deutlich: Dies ist ein Buch, das auf profunder Kenntnis der älteren und neueren Malerei, der Moderne einerseits und auf den durch Rudolf Steiner erforschten und erkannten Zusammenhängen der Anthroposophie und der von ihm begründeten pädagogischen Praxis andererseits beruht. Es ist ein anspruchsvolles Buch, das den Leser – sei er nun Klassen- oder auch Mal-Lehrer, Student der Waldorfpädagogik oder anderweitig am Mal- und Zeichenunterricht an Waldorfschulen interessiert – fordert, mit zu denken und aktiv zu schauen.

 

Das Zwischenspiel geht auf die Zeit vor rund einhundert Jahren zurück. Die Autorin Renate Schiller charakterisiert  „in wenigen Strichen“ die Zeitsituation – insbesondere die der Malerei - um die Jahrhundertwende bis zum Ende des ersten Weltkriegs und der Gründung der ersten Waldorfschule 1919. Zusammenfassend führt sie aus: „Für die bildende Kunst, wie auch für Rudolf Steiners Lehrplan für das Malen ist eine Gemeinsamkeit besonders ins Auge zu fassen, die von ihm und den maßgeblichen Künstlern seiner Zeit verfolgt wurde: Es war das Ziel, die Welt des Lebendigen durch ihr schöpferisches Wirken zu erfahren und erfahrbar zu machen.“

 

Dieses kleine Kapitel schließt ab mit einem wesentlichen Hinweis, der heute, da staatliche Abschlüsse immer stärker in den Lehrplan der Oberstufe eingreifen, von besonderer Relevanz ist: der Lehrplan der Waldorfschule unterscheide sich immer noch von anderen Schulkonzepten dadurch, dass der künstlerischen Übung ein besonderes Gewicht gegeben wird! Zwei Motive für diese Gewichtung gibt die Autorin durch das für alle Künste geltende Zitat Rudolf Steiners aus „Kunst und Kunsterkenntnis“: „Die Kunst ist ein fortlaufender Befreiungsprozess des menschlichen Geistes und zugleich die Erzieherin der Menschheit zu dem Handeln aus Liebe.“

 

 

 

Dies ist ein hohes Ideal und das Schöne an diesem Buch ist, dass es nun sehr praktisch und ausführlich umgesetzt, ja auf den Boden der Tatsachen, d.h. der künstlerischen Übung zur Erscheinung gebracht wird.

 

 

 

Das Kapitel „Der Malunterricht, eine Experimentierwerkstatt“ war für mich so anregend, dass ich am liebsten Pinsel und Farben genommen hätte, um selbst experimentierend und nachspürend tätig zu sein. Dann allerdings wäre diese Rezension nicht zustande gekommen!

 

In der Verschränkung und Zusammenschau der drei Bereiche Entwicklung des Kindes (Menschenkunde), den Angaben Rudolf Steiners zum Malunterricht, den Beispielen  aus der Malerei entsteht geradezu im Leser ein Wille tätig zu werden, sei es im malerischen Experimentieren oder im Betrachten von Bildern!

 

Dies wird z. B. deutlich, wenn die Bemerkung Rudolf Steiners <<Wenn das Rot durch das Blau hindurchguckt ...>> zum Anlass genommen wird, sich in der neueren Kunstgeschichte umzuschauen: Werke von Miró, de Stael, de Kooning, Twombly werden erläuternd herangezogen,

 

um den Sachverhalt anschaulich zu machen. Dabei geht es doch bei dieser kleinen „Farbgeschichte“ um eine der ersten Übungen im Malunterricht, um das Miterleben und die „seelische Gestimmtheit der Farben selbst“.

 

 

 

Das ganze große Kapitel zum Malunterricht in der Unterstufe, das anhand konkreter Aufgabenstellungen gegliedert ist, zeigt die Herangehensweise der Autorinnen eindrucksvoll: Die Anregungen Rudolf Steiners werden im Kontext eines Stromes der neueren Malerei gesehen. Es werden die Anregungen eben nicht unmittelbar in praktische Übungen umgesetzt, was ja zu Schematismus führen könnte, sondern durch den Verweis auf die Geschichte der Kunst – der neueren und auch der älteren – wird die pädagogische Arbeit nicht nur in den lebendigen Strom der Kunstentwicklung hineingestellt, sondern in den Strom, den auch viele Künstler bewusst erlebt und in ihrer Malerei ausgedrückt haben: „Die Farbe ist Seele der Natur und des ganzen Kosmos und wir [also auch die Kinder im Malunterricht der Unterstufe, Ergänz. des Verfassers] nehmen Anteil an dieser Seele, indem wir das Farbige miterleben.“ (R. Steiner).

 

Dies wird sehr behutsam ausgeführt, wenn es um das Malen von Tieren, Pflanzen und Landschaften geht. Die Autorin Olga Schiefer schildert ausführlich die Herangehensweise anhand der Themen der dritten bis sechsten Klasse, wiederum werden Beispiele der neueren Kunst gezeigt. Im Anhang wird das ganze Spektrum anhand von Schülerarbeiten aufgefächert. Wesentlich erscheint hier der Hinweis, dass der Lehrer nur die einzelnen Malschritte vorgibt und dass das Malen und Spielen mit den Farben dem Kind selbst überlassen wird. „Es muss nicht <<richtig>> gemalt werden, sondern ein Rahmen muss geschaffen werden, indem das Kind malen und sich mittels der Farbenwelt ausdrücken kann.“ So bleibt der Malunterricht eine Experimentierwerkstatt!

 

 

 

Das Kind entwickelt sich nach und nach von einem zweidimensionalen zu einem dreidimensionalen Bildverständnis. In einem zeitlich umfassenden Überblick wird auf die Entwicklungsgeschichte der Malerei eingegangen. Die Qualitäten zwei- und dreidimensionaler Darstellungen werden aufgezeigt und auf diesen besonderen Moment in der Malerei hingewiesen, der sich um 1910 ereignet: die Überwindung der Raumperspektive – der Beginn aperspektivische Malerei. Es wird aber nicht nur das malerische Phänomen dargestellt, sondern auch der geistesgeschichtliche Zusammenhang aufgezeigt.

 

Da dies im einzelnen hier nicht auszuführen ist, mag ein literarischer Hinweis auf Kandinskys Buch „Über das Geistige in der Kunst“ genügen. Belegt ist dieser Umstülpungsvorgang durch Malerei, Dichtung und Rudolf Steiners Äußerungen. Daraus resultiert eine Frage: „Welche Aufgabe ergibt sich daraus für die Pädagogik?“ Einerseits gilt es das heranwachsende Kind nicht zu schnell in die Dreidimensionalität des physischen Raumes hineinzuführen, andererseits gilt es während der Pubertät die räumliche Darstellung zu erarbeiten, um sie dann in der Oberstufe der 10. und 11. Klasse wiederum zu verlassen, um aus der Farbe heraus zu gestalten. So wird Bewusstseinsentwicklung – die Persönlichkeitsbildung in der Renaissance und in den folgenden Jahrhunderten bis hin zu den egoistischen Ausprägungen der heutigen Zeit und dem Sich-Öffnen, zur „Weltdurchschauung“ - in Zusammenhang gebracht mit der Entwicklung der Individualität des einzelnen jungen Menschen in die Zukunft hinein.

 

 

 

Ein letzter Unterstufenabschnitt ist mit dem Zitat „Kunst und Mathematik bildeten schon immer eine verschwiegene Komplizenschaft“ überschrieben. Hier geht es um Rhythmen und den im Bild verborgenen Zähl-, Mess- und Wägevorgängen, um Gestaltungsgesetze. Was nüchtern klingt, zeigt sich aber sehr lebensvoll im Bildmaterial und den Betrachtungen und es will von früh an geübt werden. Und, was doch überraschend ist: „Die Malerei ist – wenngleich ihr das nicht immer zugestanden wird -, wie die Musik, eine exakte Kunst.“

 

Und wie in der Musik kann sich der Kunstschaffende oder Betrachter in dieses „Lebensfeld“ mit all seinen Sinnen erlebend, übend und forschend hineinbegeben.

 

 

 

Zwei Kapitel befassen sich mit dem Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter – der Pubertät. Bereits der Untertitel und der ganze bisherige Verlauf haben uns bewusst gemacht, – dies ist der wirklich neue Ansatz - dass es um Kunst und Kunstpädagogik, basierend auf den Äußerungen Rudolf Steiners, geht. So kommen auch Dichtung, Philosophie und Künstler selbst zu Wort, die sich zum Schaffensprozess äußern. So ist das Kapitel „Von der Mittelstufe zur Oberstufe“ eine gedanklich tiefe und gut belegte Auseinandersetzung mit der Melancholie – einerseits als Durchgangsphase im künstlerischen Prozess, andererseits mit dem „dramatischen Entwicklungsweg der jungen Menschen bis in das Erwachsenenalter hinein“. Ausgangspunkt ist dabei, auf Rudolf Steiners Anregung hin, die Beschäftigung mit Dürers Melancholia, „dabei muss die Melancholie gar nicht zwingend kopiert werden.“ Es komme viel mehr „auf das Prinzip der Arbeitsweise an“. Diese wird dann im Kapitel <<Von Dürer zu Rembrandt>> und im ausführlichen Anhang behandelt. „Im Jugendalter befindet sich der heranwachsende Mensch in einem Inkubationszustand, in dem er das Alte nicht mehr sein kann und besitzt – und ihm etwas Neues noch nicht zur Verfügung steht. Er befindet sich am Ende und Anfang zugleich und auf dem Weg […] Er steht an der Schwelle, mitten in der Phase der Melancholie, und das ist verbunden mit Dunkelerlebnissen, Einsamkeitsgefühlen und dem Erleben der Unfähigkeit, das innere Chaos zu formen. […] Zu diesem labilen Zustand gesellt sich noch das Unvermögen, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen zu können. Dieses explosive Gemenge birgt einiges Potenzial für Gefährdungen seiner Entwicklung, ist jedoch – durch seine völlige Unstrukturiertheit – auch der Ausgangspunkt schöpferischen Handelns.“ All diese Zustände werden durch Malerei, Dichtung und weitergehende Zitate des 20. Jahrhunderts, bis hin zu einem Beitrag eines jugendlichen Bloggers, belegt.

 

Doch wie kommt man aus diesem Zustand, „als wären alle Fäden abgeschnitten …/ als wäre alles um dich her/ weitab und leer,/ein toter Raum,/und du dir selbst ein fremder Traum ...[...]“ heraus?

 

Der erste Schritt aus diesem Zustand ist „eine reine Willenstat, eine Setzung. Melancholie geh!, erhebe dich, tritt heraus in den leeren, ungedachten, vorstellungsfreien Raum.“ Das Motiv des Aufraffens, der Bewegung wird insbesondere durch ein längeres Zitat von Joseph Beuys belegt.

 

Letztlich geht es um die Tatsache, sich dem Geistigen nicht zu verschließen: „Stirb und werde! Lerne kennen, was das Leben bieten kann, gehe hindurch, aber überwinde, gehe über dich hinaus. Lass es dir zur Brücke werden und du wirst in einem höheren Leben aufleben [...]“ (R. Steiner)

 

 

 

Dem Kapitel „Von Dürer zu Rembrandt“ wird die Bemerkung voraus geschickt, dass die Aufgabenstellungen der neunten und zehnten Klasse bescheiden wirken, dass ihnen nichts Sensationelles anhaftet, dass ihnen ein meditativer Ansatz zugrunde liegt, der durch die Gesetzmäßigkeiten der Perspektive, die Schüler zu innerer Ruhe führen kann. Zunächst wird der Fokus auf den Wahrnehmungsvorgang selbst gelenkt. Er wird beschrieben als ein aktives Gestalten von Wirklichkeiten, der neurobiologisch und durch Rudolf Steiners Sinneslehre begründet wird. Der Hinweis auf die Parallelität der Entwicklung der Kunst in der Renaissance und der Entwicklung im Kindes - und Jugendalter bildet den Übergang auf die nachfolgenden sieben methodischen Schritte „Von Dürer zu Rembrandt“: Schattenlehre – Perspektive – Vom unbeleuchteten Gegenstand zum Licht – Vom gedanklichen zum << sinnlichen>> Sehen – Auflösung des Körpers – Neue Innerlichkeit.

 

Licht und Schatten werden zunächst anhand geometrischer Körper ohne perspektivischen Raumbezug übend ergriffen. So wird das „Raumgefühl“ (R. Steiner) geschult, das sich auf „ die ganze innere Beweglichkeit des Empfindungs- und Vorstellungsvermögens des Kindes“ auswirkt. Erst dann erfolgt der Übergang zur Raumperspektive.

 

Mit der perspektivischen Darstellung wird der Betrachter mit einbezogen.  Der junge Mensch lernt „die Welt auf sich selbst zu beziehen, sie zu verstehen und mit eigenen Gedanken zu erfassen“.

 

„Gleichzeitig [ist sie] ein gewaltsamer Eingriff in die Welt, die im Bild dargestellt wird.“ (R. Arnheim). Um nicht im Gedanklichen zu erstarren, wird in den folgenden methodischen Schritten auf eine künstlerische Arbeitsweise Wert gelegt.

 

Bevor diese ausgeführt werden, beleuchtet die Autorin Olga Schiefer verschiedene Auffassungen, was Licht sei und den Parallelprozeß der Kunstgeschichte: von Stefan Lochner, Fra Angelico, Leonardo und Dürer, um dann durch Rembrandts Kupferstich Christus heilt die Kranken eine Transformation aufzuzeigen: Das Licht „wirkt nicht mehr von außen, es leuchtet von innen heraus.“

 

 

 

Durch dieses Aufzeigen ergibt sich eine Transformation für den malerisch-zeichnerischen Unterricht, der zugleich die Wende von der neunten zur zehnten Klasse markiert: nun geht es um Helligkeitsunterschiede, Grau-Abstufungen, Kontraste, Rhythmen – das sind jetzt bildnerische Mittel, die den „Kosmos <<Bildraum>> ausmachen, in dem keine Fläche – auch nicht die leere - wertlos ist und das Motiv und der Umraum gleichrangig bestehen. Studien im Freien und solche, die dem eigenen Gefühl oder der Fantasie entsprigen sind dafür ebenso geeignet. Auch der Zufall darf ins Spiel kommen. Vom ursprünglichen, streng gesetzmäßigen, perspektivischen Bildaufbau ist man nun weit entfernt; er hat sich zugunsten einer Hell-Dunkel Gestaltung aufgelöst.

 

 

 

Im letzten Abschnitt Neue Innerlichkeit betont die Autorin die Tatsache, dass im nach-pubertären Lebensabschnitt - der Adoleszenz - es nicht darum gehe, die gedanklichen Fähigkeiten auszubilden, sondern das seelische Reifen. „Erst ab jetzt ist die volle seelisch-individuelle zwischenmenschliche Begegnung möglich.“ Rudolf Steiner bezeichnet diesen Vorgang als Geburt des Astralleibes. „Der Lehrer sollte dazu befähigt sein, ihnen [den Schülern] neue Perspektiven zu vermitteln und den Blick über den dreidimensionalen, physischen Raum hinaus zu erweitern.“

 

Dieser Gesichtspunkt leitet zum dritten großen Kapitel über – der eigentlichen Oberstufe – Licht als Farbe – Suche nach Wahrheit.

 

Zunächst wird wieder der Blick auf die Kunst gelenkt und es werden Werke von Künstlern vorgestellt, die aus verschiedenen geistigen Impulsen heraus arbeiten. Diesen nachzuspüren, sie deutlich zu machen ist das Anliegen dieses Einblicks. War die Malerei bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eher beschreibend, so geht es in der beginnenden Moderne um die allmähliche Befreiung der Farbe, auch mit einem neuen Blick hinter die Dinge oder durch die Dinge zu schauen und schließlich um die Kräfte und Potenziale ins Sichtbare zu holen, die in der Natur und im Menschen wirksam sind.

 

Aus der Kunstgeschichte sind uns etliche Namen und Bilder vertraut. Hier werden jedoch Impulse benannt und kurze Hinweise methodisch-didaktischer Art locker eingestreut; allzu strenge Festlegungen, wie vorzugehen sei, werden vermieden, da es doch ausschließlich „um das intime, persönliche und seelische Innere“ des Schülers geht.

 

So gehen wir noch einmal die kunsthistorisch bekannten Wege neu. Vom Impressionismus oder den Wirkungen des Lichts nachspürend zum Expressionismus oder den Wirkungen, die aus dem eigenen Inneren kommen, Seelisches durch Farbe ausdrücken zur gegenstandsfreien Malerei, der Abstraktion. Eine Fülle von Aspekten wird aufgezeigt, die auch insbesondere dadurch anregend ist, dass sie auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts umfasst, Beispiele gegenwärtiger Malerei aufgreift und auch einen Ausblick in Farbrauminstallationen gibt.

 

 

 

Einen Höhepunkt in diesem besonderen Buch stellt sicherlich das Kapitel <<Im Gesicht offenbart sich der ganze Kosmos>> dar. Es beginnt mit der Bemerkung, dass es von Rudolf Steiner keine Empfehlung gebe, sich im Malunterricht mit diesem Thema zu befassen. Da dies eine Herausforderung sein kann, befasst sich die Autorin Olga Schiefer mit dem Porträt in allgemeiner und in besonderer Weise.

 

Die bildliche Darstellung des menschlichen Gesichts ist stets abhängig vom Bewusstsein des jeweiligen Zeitalters, in der Moderne darüber hinaus von der individuellen Verfasstheit des Künstlers. Der Vorgang des Porträtierens ist einerseits rational-analytisch, andererseits emotional-psychologisch. Das Bild kann beide Einflüsse aufweisen..

 

Grundlegend können in der älteren Malerei zwei Pole unterschieden werden: Das äußere Abbild, das auf möglichst genaue Wiedergabe angelegt ist oder das innere Bild, das durch meditative Vorbereitung und imaginatives Schauen entstanden ist. Als Beispiele werden eine Madonna von Perugino und die Gottesgebärerin von Rubljow behutsam eingeführt.

 

Ganz anders zeigen sich die Porträts der Maler der Moderne und der Zeitgenossen. Die Individualität des Malers sind hier letztlich allein ausschlaggebend: Die sinnliche Erscheinung des zu Porträtierenden einerseits und der Tiefenblick in dessen menschliche Seele andererseits und schließlich kommen als Drittes der Einsatz der malerischen Mittel und das Faktische dazu. All dies führt schließlich zum Porträt. Analysieren, verstehen, begreifen, die seelisch-geistige Konfiguration erfassen, die Gestimmtheit, Atmosphäre, die um den zu Porträtierenden herum ist und dann der Einsatz der malerischen Mittel – Farbe, Form, Linie. Dieser komplexe und auch stark abstrahierende Prozess führen zum Bild und es ist durchaus ein großes Geheimnis, wodurch wir als Betrachter Lebendigkeit und seelischen Ausdruck erleben, von einem Porträt berührt oder auch aufgewühlt werden.

 

Dass nun dies alles Fragen aufwirft, wie mit dem Porträt in der Schule umzugehen ist, versteht sich von selbst. Es sind Hinweise und keine Rezepte, die gegeben werden und letztlich, so ein Fazit, liege alles im Ermessen des Lehrers. Mancher Leser mag dies als nicht zufriedenstellend empfinden, andere werden durch dieses Freilassen aufatmen und auch hier ihren Malunterricht als Experimentierwerkstatt empfinden. Klar aber ist, mit dem Porträt können sich Schüler, wen es nicht ein Nachspüren älterer Meister sein soll, frühestens in der elften, eher in der zwölften Klasse befassen, dann erst mögen sie über die entsprechende Reife und die Mittel verfügen.

 

Sehr schön werden reichhaltig Bild-Beispiele aufgezeigt und Hinweise auf biografische Entwicklungen von Malern gegeben – ohne Bewertung, dies ist wohltuend. Es ist ein weites Spektrum, das auch zu weitergehenden Fragen aufruft.

 

 

 

Das letzte Kapitel heißt <<Raummetamorphose>>. An den Anfang ist ein Zitat Rudolf Steiners aus dem Jahr 1922 gestellt, das durchaus aus dem heutigen Bewusstsein  hinterfragt werden kann, ob wir heute nicht schon längst aus dem nur Räumlichen herausgekommen sind, „in das Zeitliche  und auch in das Überzeitliche hinein,in das, was aus dem Sinnlichen überhaupt hinausführt“.

 

In einem Bogen wird uns noch einmal der Entwicklungsgang der mitteleuropäischen Malerei vom 12. Jahrhundert bis in die Renaissance gezeigt, dass mit dem Räumlich-Werden der Malerei sich zugleich auch ein Seelenraum öffnen kann, durch den Geistiges hindurch scheint. Dies ist auch noch bei C. D. Friedrich zu beobachten.

 

Erst am Ende des 19.Jahrhunderts und ins beginnende 20,Jahrhundert hinein gibt es den Aufbruch, den perspektivisch erlebten und oftmals auch durchkonstruierten Raum in der Malerei zu überwinden. Die atmosphärisch gewordene Malerei Monets und die musikalisch gewordene Malerei Kandinskys kennzeichnen hier die Anfänge, die in der Zeit nach 1945 teilweise in der abstrakten Malerei ihre Fortsetzung finden. Dieser Abschnitt endet wiederum mit einem Zitat Rudolf Steiners: „Die Seele ist immerfort im Geistigen, wenn sie in der Farbe lebt. [...]“

 

 

 

Nun geht es hinüber in <<Das Zeitliche>>. Mit diesen Betrachtungen verlässt die Autorin Olga Schiefer das eigentliche Gebiet der Malerei, um in der Gegenwart - oder besser -  Gegenwärtigkeit und im alltäglichen Leben anzukommen: „Wenn ich male oder zeichne, habe ich einen anderen, besonderen Blick. Dieser Blick fällt nicht auf oder in das Gewöhnliche, er «weiß» nichts über die Dinge in der Welt. Einem neugeborenen Kind gleich betrachtet er die bekannten Dinge, und seine Absicht liegt nicht darin, diese wiederzuerkennen, sondern nichts zu bestimmen und zu vermitteln, was schon gewesen ist. Dieser kann überall auftauchen — in der Straßenbahn kann er ein Profil bewundern, auf der Straße faszinieren ihn feuchte Flächen mit gold und braun leuchtenden Farben (das sind Blätter, aber er erkennt sie nicht), ein geschmierter Fleck, Schatten, ein Kratzer an einer Mauer —, alles interessiert ihn. Er kennt keine Vergangenheit, lebt nur in dem Moment und ist unablässig neu. Das eigentlich Künstlerische ist ein fortwährendes Forschen, auf das Neue, Unbekannte gerichtet, auf das bis dahin Zukünftige, das auch unverständlich und provokativ sein kann.”

 

Marcel Duchamp, John Cage, Martina Abramovic und Joseph Beuys werden als Künstler, die Grenzen überschritten haben und neue Sichtweisen und Begriffe aufzeigten, zitiert. Duchamp hatte die Malerei hinter sich gelassen, Ready Mades geschaffen und sich dem Schachspiel verschrieben, John Cage war Musiker, der häufig mit dem Zufall in seinen Kompositionen und Malereien arbeitete.. Beuys – Bildhauer, Zeichner, Aktions- und Installationskünstler -  hat sich mit seinem erweiterten Kunstbegriff ganz der Sozialen Plastik gewidmet. Abramovic, die Grenzgängerin, hat sich ganz der Performance verschrieben So stellt sich letztlich die Frage: Wo liegt das Zukünftige in der Malerei?

 

Für die Waldorf-Pädagogik hingegen gibt es klare Ziele und Aufgaben: Die schöpferischen Kräfte im heranwachsenden, jungen Menschen zur Entfaltung zu bringen, ihm die Entwicklung seiner eigenen, individuellen Potentiale zu ermöglichen, dazu kann der malerisch-zeichnerische Unterricht der Waldorfschule, wenn er offen, undogmatisch und aus der Ich-Präsenz des Lehrers, aber dienend und nicht eigene künstlerische Ziele verfolgend, geführt wird in besonderer Weise beitragen.

 

 

 

Es ist ein besonderes Buch, zeitgemäß – weil anregend durch die Fülle des qualitätsvollen Bildmaterials und durch den Anspruch, Rudolf Steiners Kunstauffassung, seine methodisch-didaktischen Hinweise zum Mal- und Zeichenunterricht mit der modernen und zeitgenössischen Kunst zu konfrontieren. Es ist ein Buch, das man gerne öfters in die Hand nimmt. Hier ist die Trennung der Abbildungen von Kunstwerken und dem reichhaltigen, einhundert Seiten umfassenden Anhang angenehm. Es ist kein Handbuch, sondern vor allem ein Arbeits- und Studienbuch, das zum Mit- und selbständigen Denken aufruft. Wer schnelle Antworten oder gar Rezepte sucht, wird nicht auf seine Kosten kommen. Den im Vorwort genannten dreifachen Anspruch erfüllt es so, dass es ermutigt, selbst neu zu denken und zu tun!

 

 

 

Günter Graf, 21.7.2015